Dezember 2021
Das Wort den Parteien
Bezahlt sie endlich anständig!
Es ist bezeichnend, wie während dieser Krise die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen nochmal bestätigt und widerstandslos akzeptiert wurde. Die Gesellschaft ist mit einer außerordentlichen Stresssituation konfrontiert, es knackt und zieht an jeder Ecke des sozialen Netzes, die Gesundheits- und Bildungssysteme kommen an ihre Belastungsgrenzen und es sind vor allem wieder die Frauen, die den öffentlichen und privaten Mehraufwand auffangen und ausgleichen müssen. In der Pflege und im Gesundheitssektor genauso wie in den Bildungseinrichtungen und der Kinderbetreuung: Hier machen Frauen den Großteil der Beschäftigten aus. Und den Spagat zwischen Homeoffice und Homeschooling haben nachweislich auch vor allem Frauen vollziehen müssen.
Das sieht alles nach ziemlich viel Arbeit aus für die schon vor Corona erworbene Erkenntnis, dass „Die Gesellschaft strukturell von Frauen gehalten wird“[1], so formulierte es die ehemalige französische Justizministerin Christiane Taubira in ihrem letztveröffentlichten Buch. Es ist also höchste Zeit über eine radikale Neubestimmung der Wertigkeit von Arbeit nachzudenken. Wenn der gesellschaftliche Mehrwert einer beruflichen Tätigkeit als Lohnbemessungsfaktor dienen könnte und eben nicht nur der wirtschaftliche Mehrwert, würden Berufe im Pflege-, Betreuungs- und Bildungssektor besser bezahlt werden. Denn spätestens jetzt sollte jedem aufgefallen sein, dass alle Sektoren, die mit Menschen zu tun haben, schlechter bezahlt werden als der Finanz- oder Technologiesektor. Die wichtigsten Aspekte unseres Lebens, unsere Gesundheit, unsere Pflege, unsere Kinder und unsere Senioren*innen legen wir in die Hände von Menschen vor allem weiblichen Geschlechts und bezahlen sie schlechter als diejenigen, die für unsere Maschinen, Häuser und unser Geld zuständig sind. Wertschätzung durch Applaus und schöne Worte inclusive.
Spätestens nach dieser Krise werden wir deshalb unser Wertigkeitssystem – auch auf die Beschäftigung und Arbeit bezogen – radikal überdenken müssen. Entlohnung wird an die gesellschaftliche Relevanz einer Tätigkeit ausgerichtet werden müssen. Das hätte in vielerlei Hinsicht Signalwirkung für soziale, aber auch für durchaus markt- und wirtschaftsrelevante Indikatoren. Es könnte damit der Personal- und Fachkräftemangel vor allem im Pflegesektor begegnet werden. Care-Arbeit allgemein würde endlich beziffert und aufgewertet werden, was schließlich auch die bessere Sichtbarkeit von Frauenarbeit in volkswirtschaftliche Bilanzen ermöglichen könnte.
Schließlich wäre so ein Paradigmenwechsel in der Lohnpolitik auch ein Signal für die aktuell auch in Ostbelgien laufende Diskussion zur Bildung einer Wertegemeinschaft, die wir gerade neu definieren und ausrichten wollen. Denn was ist Erfolg und wer wird als erfolgreich angesehen? Der Mensch, der viel Geld verdient, oder der Mensch, der sich für die Gemeinschaft einbringt und durch berufliches oder ehrenamtliches Engagement an der Verbesserung des Lebens aller Menschen mitwirkt?
Wir stehen erst am Anfand der Diskussion und sind schon lange nicht am Ziel. Fangen wir aber schon mal mit einem ersten Schritt an: Bezahlen wir Frauen endlich anständig!
[1] Christiane Taubira: « La société tient structurellement par les femmes » – Europe – LeVif